Heiligendamm - Der Auftakt: Die Anreise
06:41a.m. Eine Zahlenkombination, die das Leben in sich vereint: ein bisschen rund, ein bisschen eckig, mal geradeaus, mal um die Ecke rum. Am Sonnabend morgen war sie für uns alle der Zeitpunkt, an dem wir uns im stahlträgerwerfenden Hauptbahnhof Berlin versammelten. Gleis 6 was the place to be. Dummerweise nicht nur für uns. Da sind noch einige mehr auf die Idee gekommen, zu nachtschlafender Zeit gen Norden zu pilgern... Und noch mehr sind auf die Idee gekommen, schon am Südkreuz einzusteigen. Und noch andere sind von weiter südlich hergekommen. Und deswegen hatten wir dann 3 Stunden Ölsardinenfeeling im Eingangsbereich eines Regionalexpress. Großes Kino. Hat mich sehr bald an die re-publica erinnnert, weil Kuschelveranstaltung gab´s dann auch im Zug. Da wurde sich gegenseitig leidvoll in die Augen geschaut, daraufhin gelacht, ob der Launen des Schicksals, der müde Kopf an die Schulter des Nachbarn gelehnt, das Frühstücksbrötchen über 10 Köpfe hinweg an Freunde weitergereicht, die Zeitung in die Runde verteilt.
Bei uns in der Ecke standen u.a. 2 betagtere Genossen weit jenseits der 50. Widerstandserfahren, mit eigener Meinung gut versorgt und offenbar auch darin erfahren, früh aufzustehen und dann auch wach zu sein. Die Herren waren sehr gut darin, kurz nach 7 die ersten politischen Diskussionen anzuzetteln. Da hieß es dann: "Wir müssen eine kämpferische Revolutionsfront von unten bilden!" Derselbe Mann war aber wohl doch noch nicht ganz so wach, es entrutschte ihm ein "Das, was dieses Kabarett, äh, Kabinett da macht, ..." Die Herren tauschten sich in altbekannter marxistischer Terminologie darüber aus, anhand welcher Phänomene der böse Kapitalismus erkennbar ist. Ziel seiner Argumentation war die Antwort auf die Frage, ob wir im bösen Kapitalismus leben. Antwort: Natürlich leben wir im bösen Kapitalismus, gar keine Frage, ist doch einleuchtend. Ah ja, vielen Dank für diese Erkenntnis. Wär ich jetzt nicht drauf gekommen. Weshalb stehen wir nochmal alle in diesem Zug? Nein, 7 Uhr früh nach 2 Stunden Schlaf ist keine gute Zeit, um solche Äußerungen ohne Genvervtsein und Sarkasmus auszunehmen.
Angenehmer wurde es gegen 8. Auftritt Karl Schnüffel. "Guten Morgen. Schnüffel mein Name. Karl Schnüffel vom BKA. Im Auftrag des Bundesinnenministers werden von mir hier nun Demonstranten und Terroristen erschnüffelt. Bitte stellen Sie sich dazu in einer Reihe auf." Karl Nümmes, Liedermacher aus Berlin, steckte dahinter.
Den Rest der Zugfahrt verbrachte ich damit, Ernst Cassirers Ausführungen zur Tragödie der Kultur zu folgen, einem Freund Luhmanns Kulturbegriff in wenigen Sätzen näher zu bringen, im Stehen zu schlafen und dem Ganzen das Positive abzugewinnen. Kurz vor Rostock aber war klar: so langsam werden hier alle wahnsinnig. Die einen haben seit mind. 1 Stunde kein Wort mehr von sich gegeben. Bei anderen zieht sich die Stirn in immeren größeren Falten zusammen, während die Augen nicht mehr von leichtem Unbehagen, sondern mehr von stärker werdendem Schrecken berichten (ich bin geneigt, ein Kotztütchen bereit zu halten). Der endgültige Sauerstoffmangel machte sich an den Abiturienten des nächsten Jahres bemerkbar. Sie begannen, Lieder à la "Mein Hut, der hat 3 Ecken..." zu singen. Zum Beispiel über Tomatensalat. Also, genau genommen war Tomatensalat der einzige Text. Der wurde dann in diversen Tonfolgen in die Runde geträllert. Da hatte ich also meine Tragödie der Kultur, live und in Farbe.
Die Ankunft in Rostock glich der Langstreckenreise im Trabi. War man im Trabi unterwegs und das Auto hielt, hieß es immer zuerst raus da und dann überlegen, wie weiter. (Sehr schön zu sehen im FIlm "Go, Trabi, go") Wir also erstmal inmitten aller anderen Zugreisenden raus aus dem Bahnhof auf den Vorplatz, um uns dort darüber klar zu werden, dass wir ja zum Camp wollen und dazu mit der S-Bahn fahren müssen...
5 Kommentare:
Ob einer der "Älteren Herren" wohl mein Deutschlehrer war? Hat er doch am Donnerstag im Unterricht noch Informationsmaterial für Rostock verteilt. Der nette Herr K. ist nämlich bei Attak...
Aber Du bist noch heile! Schön das zu lesen! Oder? Du bist doch gesund und munter zurückgekommen?
Im Gegensatz zu allen anderen ist der Matschtag heute an mir vorbei gegangen. Ja, ich bin gesund und munter zurück gekommen.
Der Luhmannsche Kulturbegriff in wenigen Saetzen wuerd mich auch interessieren.
Schoen, dass du ganz und am Stueck bist.
sehr cool fand ich, dass für den grünen block kein platz mehr im zug war.
:)
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