Freitag. Mir ist wie Sonnabend. Die ersten Stunden haben also gewirkt. Ein Gefühl von hier-genau-richtig-sein.
Zum Mittag ab ins Kino. Moviemento Kurzfilmreihe mit Kinderfilmen. Im wahrsten Sinne des Wortes ganz großes Kino: A Sunny Day von Gil Alkabetz. Es beginnt mit dem Bild einer Hügellandschaft und einem gelben Ball, der sich hebt und senkt. Ein Schnarchen ertönt - die Ball hebt sich. Ein pfeifendes Ausatmen - der Ball senkt sich. Dann klingelt der Wecker und die Sonne erwacht. Mit einem Schrecken steigt sie über den Hügel. Die Sonnenstrahlen sind noch kleine schwarze Striche. Um sich die Zähne zu putzen, malt die Sonne einen Regenbogen an den Himmel, holt die Zahnbürste raus und nimmt die Regenbogenzahnpasta zum Zähneputzen. Ausgespuckt wird ein kleiner Spritzer Regenbogen. Ein paar vorbeifliegende Wolken sind der Rasierschaum. Dann ist es Zeit, sich die Haare zu kämmen. Aus den kleinen, schwarzen Strichen werden strahlendbreite Sonnenstrahlen. Am Ende des Hügels wohnt ein kleines Mädchen. Sie macht sich auf, stellt sich mit ihrem Hund vors Haus und setzt Sonnenbrille und Hut auf. Auch der Hund bekommt einen Hut. Die Sonne schaut ein wenig traurig. Das Mädchen geht zu ihrer Familie, die sich unter einem Baum in den Schatten geflüchtet hat. Die Sonne schaut wieder traurig zu und verändert ihren Stand. Die Familie flüchtet mit dem Schatten auf die andere Seite des Baumes. Das Mädchen steigt in einen Bus ein. Die Sonne freut sich, sie auf ihrem Weg begleiten zu dürfen. Doch das Mädchen ist ärgerlich und lässt die Rollläden am Fenster des Busses herunter. Die Sonne gibt nicht auf. Sie weiß um das Gute, das sie vollbringen kann und möchte es den Menschen zuteil werden lassen. Sie folgt dem Bus und dem Mädchen, kämpft sich einen Berg hinauf und freut sich, als das Mädchen am Strand ankommt. Aaah! Hierher kommen die Menschen, um die Sonne zu genießen. Also stellt sich die Sonne freudig an den Himmel. Die Menschen reagieren unisono mit dem Aufspannen von Schirmen. Die Sonne lässt sich nicht entmutigen. Sie vollführt einen Tanz und sammelt all ihre Pracht. Die Menschen reagieren unisono mit dem Aufstellen von Zelten. Langsam wird die Enttäuschung zu groß. Die Sonne wandert noch ein wenig umher und macht sich dann auf, hinter dem Horizont des Meeres zu verschwinden. Der Tag ist vorbei und es wird Zeit, sich schlafen zu legen. Da blitzt und jubelt es auf einmal. Die Sonne schaut überrascht gen Strand. Dort stehen all die Menschen, die sich gerade noch in ihren Zelten versteckt hatten, halten Kameras in die Höhe und klatschen begeistert. Die Sonne wird verlegen. Läuft rot und lila an vor lauter unerwarteter Freude ob dieser Aufmerksamkeit. Sie strahlt noch ein letztes Mal und versinkt hinter dem Horizont. Bis nur noch ein Schnarchen und ein pfeifendes Ausatmen zu hören ist.
Ein bisschen Chillen im Zelt. Ein bisschen Rumlaufen und dabei froh sein, die Regenjacke mitgenommen zu haben. Unseren Nachkömmling begrüßen. Ans Lagerfeuer setzen und die Hippiegemeinde einwirken lassen. Festivals sind immer eine andere Welt. Abgeschottet von allem. Hier auf der Fusion ist es nochmal anders. Tagsüber, wenn die Beleuchtung fehlt und die Stromversorgung für die Stände und die Musik das einzig Technische sind, treten die selbstgebauten Orte aus Holz und Stoffen in den Vordergrund. Die Menschen sitzen auf Holzstämmen oder unter Planen. Der Anblick eines iPhone und der Anblick eines Aliens in seinem Raumschiff würde hier nicht den kleinsten Unterschied machen. Beides ist seltsam entrückt.
Das Cabaret at the End of the World. Der Abend bringt kurzweilige Stunden voller Artistik, Pomp, extravaganten Moderatorinnen und ihren vier Übersetzern. Staunen und Lachen. Bewundern und ums Verrecken den Mund nicht mehr zu bekommen. Bis die ich-bin-eine-Frau-die-so-tut-als-sei-sie-ein-Mann-der-als-Drag-auftritt mit plumpen Sexanspielungen eine schlechte Playbackshow abliefert. WIr verpassen den Rest des Abends. Aber es ist egal. Denn jetzt kommt The Rodeo. Sie ist die Entdeckung des Wochenendes. Deshalb an anderer Stelle mehr.
Sonnabend. Oh! Schon Sonnabend. Ein Gefühl von "das Ende naht". Jetzt bloß nicht verrückt machen lassen. Gemütlich frühstücken. Ins Casino Hörspiele hören. Klappt nicht. Die Bänke und Böden sind überfüllt mit schlafenden und lauschenden Menschen. Egal. Auf dem Sonnendeck ist es sowieso viel schöner. Zu Hauf fliegen die Schwalben in der Gegend umher. Vor dem Casino haben sich zwei Jungs hingesetzt und spielen mit ihrer Gitarre und einem Saxophon ein kleines Set. Es ist genau das richtige für den Moment. Die Seele baumeln lassen. Dösen. Die Ruhe finden, die sich des Nächtens ob der 24h-Trancemucke nicht so recht einstellen will.
Zurück zum Zelt und mal ein wenig zivilisatorische Gesichtspflege gegönnt.
Bratze in der Tube. Schon während des Wartens fließt der Schweiß in Strömen über die Rücken. Gruppendynamiken sind etwas eigenartiges. Wir stehen erst hinten. Dort drückt und drängelt es. Kellerclubatmosphäre kommt auf. Kurz vor Beginn gehe ich nach vorne. Angenehme Leere, die ich schon von weitem erkenne. Ich drängele mich durch und kann für einen Moment Luft holen. Ich wundere mich, dass nicht mehr Leute auf diese Idee kommen. Der Moment des Luftholens ist vorbei als Bratze starten. Von Sekunde eins an rocken sie das Haus. Die Jungs sind heiß. Die Leute vor der Bühne sind es auch. Ein Schlag in die Magengrube. Ein wildes Durcheinander als gäb´s kein Morgen mehr.
Die Jolly Goods. Ich kannte nur ihre Single Girl Move Away From Here, war gespannt und musste mich der Enttäuschung preisgeben. Nicht, weil sie nicht gut waren, denn das waren sie. Sondern, weil die Single mitnichten das widergibt, was die beiden Mädels live präsentieren. Girl Move Away From Here ist eine gerade noch tanzbare, wütende und wütige Musik. Mehr davon hatte ich erwartet. Alles andere jedoch klingt nach den Töchtern von PJ Harvey, mit jugendlichem Zorn im Bauch und verschiedensten Varianten von Herausschreien auf den Lippen. Mehr noch, es ist ein Ausloten der Grenzen dessen, wozu die Sängerin Tanja Pippi in der Lage an den Rändern der Pfade ausgetretener Songstrukturen.
Danach: Flasche leer. Ich kann nicht mehr. Ich merke, die Erkältung steckt mir immer noch in den Knochen. Ich gehe schlafen und begrüße am frühen Morgen die Heimkömmlinge aus den Nachbarzelten. Die Sonne strahlt. Entspanntes nichts-muss-mehr im Kopf. Die Elektrobeats werden auch langsam aufdringlich. Ebenso das partywütige Volk, das mittlerweile die Wege beherrscht. Es hat sich was verändert zum Wochenende hin. Mehr schicke Club-Menschen. Mehr bummbumm-Techno-Volk aus Autos, deren Kennzeichen durchgehend mit drei Buchstaben beginnen. Die Wirkung von Alkohol, anderen Drogen und durchtanzten Nächten zeigt ihr unschönes Gesicht. Es ist zwar immer noch um Längen entspannter als auf anderen Festivals, aber die Ruhe der ersten Tage ist vorbei.
Das Highlight zum Abschluss: Slacklinen. Auch eine Club Mate findet sich noch an.
Die Zeit, in der die Sonne am Höchsten steht, ist die Zeit, in der wir aufbrechen. Anstehen an der Ausfahrt. In kurzen Metern rollen wir voran. Volkssport Nummer eins: Das Auto schieben. Die Jungs sind offenbar noch nicht ganz ausgelastet... Großartiger Anblick allenthalben. Zwischendrin: Lesen. Auf die Motorhaube setzen. Handstände üben.
Auf dem Heimweg Halt an der ersten Raststätte. Jetzt ein Eis. Begegnungen mit Menschen, die so etwas wie "eine andere Welt ist möglich" schon früh aus ihrem Denken gestrichen haben. Genervtes Gehupe, wenn man als Fußgänger die Dreistigkeit besitzt, die Straße zum Parkplatz zu überqueren. Hektische Eltern, die ihre Kinder wieder ins Auto zurückschleifen. "Aber da ist doch ein Mülleimer." "Nein komm! Das Eis kannst du auch noch im Auto aufmachen." Mit Rasten hat das hier rein gar nichts zu tun.
Und so kehre ich heim. Trage die Erinnerungen in mir. Und schaue mit glänzenden Augen alldiejenigen an, die mich fragen wie´s war.